Zehn Thesen zur Aufarbeitung der Corona- Epidemie

Verlorene Jahrzehnte – zurück zum paternalistischen Gesundheitssystem

Matthias Schrappe analysiert in einer dreiteiligen Artikelserie die Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Epidemie-Managements auf die Gesundheitsversorgung (Cicero Online, Teil 1, Teil 2, Teil 3, 30.11. bis 2.12.2022).

Natürlich muss die Diskussion um das bisherige Pandemie-Management die Ebenen der gesellschaftlichen Veränderungen (z.B. Einengung des Diskurses, Revival des „Durchregierens“) und die Diskussion der Einzelsachverhalte (z.B. FFP2-Maskenpflicht im Krankenhaus) umfassen. Ganz zentral ist aber die umfassende Rück-Abwicklung zentraler professioneller Standards in der Gesundheitsversorgung, so wie es sich derzeit ja auch in der Versorgungskrise (z.B. Kinderkliniken) zeigt. In der Patientenversorgung und für die Arbeitswelt im Gesundheitswesen steht dabei die Schwächung zahlreicher Kompetenzen im Vordergrund, z.B. Patientenorientierung, Qualität, Patientensicherheit, Evidenz-basierte Medizin und die Steuerung komplexer Versorgungsprozesse. Viele dieser Errungenschaften hatten das Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten ganz entscheidend geprägt und sind auch wissenschaftlich gut abgesichert. Sie wurden intensiv öffentlich diskutiert, da sie gesellschaftliche Prozesse reflektieren (z.B. persönliche Selbstbestimmung und Entscheidungsfindung). Nun muss nach knapp drei Jahren Pandemie-Management versucht werden, die Verluste einzugrenzen und die Entwicklung wieder aufzunehmen, gerade da sie – Beispiele Finanzierung und Transparenz der Institutionen – auch von allgemeinem Interesse sind.

Die zehn Thesen in der Artikelserie lauten:

  • (1) Grundlegend: es gab kein „Handeln unter Unwissenheit“!
  • (2) Reduktionistischer Rückfall: der Krieg gegen das Virus
  • (3) Überspielt und ausgeschaltet: Ärztliche und pflegerische Fachkompetenz
  • (4) Patientenorientierung war gestern – zurück zum paternalistischen System
  • (5) Fehlende Wissensbasis: Evidenz-basierten Medizin (EBM) verdrängt
  • (6) Pandemie-Management: rein linearer Umgang mit sozialen Prozessen
  • (7) Kardinalfehler: Steuerung mit mangelhaften Daten
  • (8) Führungsdefizit: Hidden Agenda statt Vorbildfunktion
  • (9) Mangelnde Vertrauensbildung: Druck erzeugt Gegenwehr
  • (10) Hilfloses „Weiter So“ statt gekonnter Risikokommunikation

Zum Schluss der Artikelserie heißt es: „Es geht um die Unterbrechung langfristiger Entwicklungen, die sich in den letzten Jahrzehnten vor Corona ausgeformt haben, und die sich in der Gesundheitsversorgung abbildeten: Stärkung der Individualität und Selbstbestimmung, die Bedeutung und Verantwortung sozialer Strukturen (z.B. Teams beim Thema Sicherheit) und den Abschied von einfachen top-down-Strukturen in der politischen Steuerung zugunsten partizipativer Strukturen, die auf der Beteiligung der involvierten Partner beruhen.“

„Im Rahmen von Corona wurden diese langsamen, mühevoll etablierten Entwicklungen im Gesundheitswesen schwer beschädigt. Ein Wiederanknüpfen an die Entwicklung vor Corona wäre wünschenswert. Wortgewaltige Verkündigungen der „Zeitenwende“ sind gefährlich, weil sie so verstanden werden könnten, dass Patientenorientierung, Qualitäts- und Sicherheitsorientierung und die transparente Wissenssynthese nun ausgedient hätten. Welch Desaster! Man würde in das Zeitalter der „Eminenz-basierten Medizin“ zurückfallen, statt Evidenz-basierten Leitlinien die Glaubwürdigkeit der Vor-Lauten.
Wenn es schief gelaufen ist, kann man die Ursache natürlich externalisieren: die Leute sind einfach zu widerwillig, ja vielleicht handelt es sich sogar um Verfassungsfeinde („Delegitimierer“), auf jeden Fall ist „da nichts mehr zu machen“. In diesem Fall kann man die Spaltung fortführen und muss sehen, wie sich die Dinge entwickeln.

Man könnte allerdings zu der Überzeugung kommen, dass nicht abebbende Demonstrationen und eine 20%ige Quote von Skeptikern, die mit dem Corona-Management nicht einverstanden sind, auch einen Anlass zur Selbstbefragung bieten. In diesem Fall wäre es sinnvoll, eine Gelegenheit zu suchen und wahrzunehmen, um zu signalisieren, dass auch von verantwortlicher politischer Seite nicht alles optimal gelaufen ist, dass also Fehler gemacht wurden, und die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Solche Anlässe sind ja vorhanden, die Vorstellung der Studie zur verfehlten Schließung von Kindertagesstätten nur als Beispiel. Ein schmallippiges „wir haben uns punktuell bei diesem Thema geirrt“ reicht allerdings nicht aus. Stattdessen wäre es denkbar, ein etwas umfassenderes Herangehen zu wählen. Vertrauen aufbauen, dies ist und bleibt ein aktiver Prozess.

Vom gleichen Autor finden sich auf Cicero Online folgende Artikel aus den letzten Monaten, die inhaltlich aufeinander aufbauen:

Hier nochmals die dreiteilige Artikelserie zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Epidemie-Managements auf die Gesundheitsversorgung: Teil 1, Teil 2, Teil 3, 30.11. bis 2.12.2022.